Ein gerechtes Schulsystem: Utopie oder Vision?

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Viel wird darüber diskutiert, ob unser Schulsystem noch zeitgemäss ist und viele möchten eine Veränderung lieber heute als morgen. Ab diesem Punkt ist es aber meist schon vorbei mit den Gemeinsamkeiten. Einige möchten eine Schule ohne Noten, die anderen eine, wo die Schüler:innen selbst bestimmen können, was sie lernen, wieder andere möchten mehr Drill und Disziplin. Dann gibt es diejenigen, die alle Jahrgänge miteinander mischen möchten und andere welche möglichst früh nach Leistung selektionieren wollen etc. In diesem Artikel möchte ich der Frage nachgehen, ob das System grundsätzlich nicht mehr zeitgemäss ist oder ob man das gängige System einfach anders umsetzen sollte.

Der Lehrplan 21

Die Grundlagen dieses neuen Lehrplans gehen auf das Jahr 2010 zurück, mit dem Ziel in den Deutschschweizer Kantonen einheitliche Standards zu schaffen. Das Werk ist ein gewaltiger Papiertieger. Wikipedia sagt: Neu umfasst er 470 Seiten, 363 Kompetenzen und 2304 Kompetenzstufen. Sinnvollerweise haben nur noch wenige den vollständigen Lehrplan in einem Ordner im Schulhaus oder zu Hause, sondern er ist auf einer Webseite abzurufen. Was viele auch nicht wissen: die 21 steht nicht fürs 21. Jahrhundert, sondern für die 21 Deutschweizerkantone die mitmachen. Einheit hat das Werk auch nicht wirklich gebracht, erhalte ich einmal einen Schüler aus einer anderen Stadt und sei es nur der unmittelbare Nachbarkanton, dann ist ausser der Notenskala von 1-6 alles anders als bei uns in Bern. Die Begriffe sind immerhin ähnlich geworden, auch wenn unter Kompetenzen alle etwas anderes verstehen. All die Experten, bei denen ich Kurse zum Thema besuchte, konnten mir keine wirklich schlüssige Erklärung liefern, was eine Kompetenz nun eigentlich ist. Aber egal, ich mag den Lehrplan 21 trotzdem. Er bringt uns Lehrkräften sehr viel Freiheit. Erstens verlangt niemand ernsthaft, dass wir die 363 Kompetenzen mit den 2304 Kompetenzstufen durchbringen müssen. Rein rechnerisch wären das pro Woche 6.5 Kompetenzstufen pro Schulwoche (Berechnungsgrundlage 9 Schuljahre à 39 Schulwochen). Andererseits kann man fast alles, was man in der Schule behandelt irgend einer Kompetenz zuordnen. Wenn man unter den 363 Kompetenzen keine findet, dann kann man auch noch bei den Überfachlichen suchen und die sind noch viel wertvoller…

Neues System: neue Gewinner und neue Verlierer

Jeder Systemwechsel schafft Gewinner und Verlierer. Heute ist Selbständigkeit, intrinsische Motivation und Selbstbestimmung wichtig. Das sind gute Werte ohne Zweifel, es sind Werte die gefördert und denen Raum gegeben werden soll, was ist aber mit all denen die unter Druck zu Höchstleistungen auflaufen? Es sind oft nicht die, welche sich selbst motivieren, sie brauchen den Wettbewerb, sie motivieren sich, weil sie andere übertreffen wollen. Selbstorganisation ist toll, wenn man sich eigene Ziele setzen und sich die Zeit einteilen kann. Was ist mit denjenigen die das nicht können und am liebsten geführten Unterricht mit Schritt für Schritt-Anleitung haben? Gegenwärtig haben wir ein System, das Mädchen bevorteilt: Ich bin selber erschrocken, als ich meine Statistik gesehen habe. Gerade einmal ein Junge habe ich in allen drei relevanten Fächern in die Sek geschickt alles andere waren Mädchen. In gewissen gymnasialen Richtungen sind inzwischen ¾ aller Lernenden Mädchen, nur bei der Richtung Wirtschaft und Recht sind die Mehrheit noch Jungs. Bitte versteht mich nicht falsch: Ich finde es toll, wenn Mädchen gut sind in der Schule und junge Frauen studieren wollen. Reden wir aber von Gleichberechtigung und Gleichstellung, entfernen wir uns zumindest bei der jüngeren Generation von diesem Ideal in Richtung Bevorzugung der Mädchen und Frauen.

Selektion oder Inklusion?

Stell dir ein Wettrennen auf dem Nürburgring vor. Eins bis zwei kommen mit einem Formel 1 Boliden, eine handvoll kommt mit Rallyautos, eine weitere handvoll mit Motorrädern, 5-6 haben Fahrräder und dann gibt es noch 2-3 Fussgänger. Diese alle wollen auf derselben Rennstrecke trainieren. Der Trainer muss Treibstoff zur Verfügung stellen: Von hochoktanigem Benzin bis zu Äpfeln und Bananen für die Fussgänger. Dazu muss geachtet werden, dass sich die Verkehrsteilnehmer nicht über den Haufen fahren. Auf der Tribüne stehen Formel1- Rally- Fahrrad- und Leichtathletikfans, welche ihre Athleten anfeuern und sich über die 30er Zone in den gefährlichen Kurven ärgern, die man zur Sicherheit einführen musste. Der Trainer mit ein paar Helfern müssen schauen, dass es am Ende alle irgendwie ins Ziel schaffen.

Diese Situation ist sicher etwas überspitzt, trotzdem zeigt sie was in vielen Klassenzimmern heute abläuft. Ein bunter Haufen von Kindern mit verschiedenen Fähigkeiten, Bedürfnissen und z.T. gravierenden Einschränkungen: Von solchen, die kaum Unterstützung brauchen bis zu jenen die keine 5 Minuten stillsitzen können. Die Lehrkräfte versuchen nach Möglichkeit jedem seinen abgestimmten Stoff bereitzustellen, zu unterstützen und zu testen. Auch für die Kinder bringt dieser Mix kaum Vorteile: Meine Beobachtungen zeigen, dass die Leistungsschere ca. ab der 4. Klasse so extrem auseinandergeht, dass sich schwächere Kinder in einer Klasse nicht mehr besonders wohlfühlen. Als Lehrer muss ich ständig dafür sorgen, dass sie motiviert bleiben und nicht abhängen. Auch mit Spezialunterricht ist es so eine Sache: Die schwächeren Kinder haben ab ca. der 5. Klasse keine Lust mehr immer etwas anderes zu machen als die Schnellen.

Selektionsprozesse sind immer problematisch, nie ganz gerecht und die Kriterien nicht für alle verständlich. Als 5./6. Klasslehrer bin ich voll in diesem Prozess involviert, wohin die Schülerinnenn und Schüler nach der Primarschule hinkommen sollen. Im Kanton Bern haben wir das Glück, dass wir die Schüler:innen 1.5 Jahre beobachten und uns ein recht gutes Bild machen können, wer wohin passt. So können wir viele Kriterien für den Übertritt berücksichtigen auch solche, die sich in Prüfungen nicht messen lassen. Wegen des ganzen Prozederes, gibt es immer wieder Stimmen, die fordern die Selektion ganz abzuschaffen. Eine Selektion wird aber trotzdem irgendwo stattfinden, spätestens bei der Berufswahl und dann wird die Wirtschaft entscheiden welche Kriterien gelten. Ob dieser Prozess dann gerechter ist, ist anzuzweifeln. Ich ziehe es vor die Selektion in der Schule zu behalten, damit wir den Ablauf möglichst fair gestalten und möglichst viele Kriterien berücksichtigen können.

Benoten oder nicht?

Ganz ehrlich gesagt mag ich Noten nicht besonders. Wie soll man eine Leistung in einem Fach mit einer Zahl zwischen 1-6 beschreiben können? Was unterscheidet konkret eine 5 von einer 5 ½? Deshalb sollte man die Aussagekraft der Noten mit den Schüler:innen besprechen und relativieren. Andererseits sind Notenskalen enorm tief in der Gesellschaft verankert, weil praktisch alle Eltern damit gross geworden sind. Deshalb haben Noten einen starken Motivations- bzw. Demotivationscharakter. Meine Schüler:innen wurden in der 4. Klasse mit Farben beurteilt, ich führte dieses System weiter. Mit der Zeit wollten sie aber Noten als Zahlen haben, weil ihnen das eine genauere Rückmeldung gab. Natürlich gibt es auch Kinder, die unter dem Druck der Noten zerbrechen und damit nicht zurechtkommen. Dafür gibt es aber auch schon heute die Möglichkeit ohne Noten und mit einem zusätzlichen Bericht zu beurteilen.

Es ist wichtig, dass die Schüler:innen auch mit Druck umgehen können, das Leben ist keine Wohlfühloase. Es ist nicht falsch, wenn Lernende wissen, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einem Thema bereit sein und es beherrschen müssen.

Intrinsische Motivation oder externer Druck?

Es ist unbestritten, dass intrinsische Motivation der beste Weg ist etwas lernen und verstehen zu wollen. Ist er aber immer realistisch? Ich bezweifle das. Es gibt zu viele Situationen, die man einfach machen muss, obwohl man dazu überhaupt nicht motiviert ist. Auch Lieblingsbeschäftigungen enthalten Durststrecken, die man überwinden muss, um weiterzukommen. Deshalb halte ich auch ein stark intrinsisch motiviertes Schulsystem für unrealistisch. Natürlich soll man Interessen von Schüler:innen berücksichtigen, aber alles von ihnen selbst bestimmen zulassen wird kaum weiterführen.

Fazit

Das Schulsystem für die gegenwärtige Situation verantwortlich zu machen ist zu einfach. Es geht darum die Systemvorgaben so zu nutzen, dass wir die Kinder möglichst gut auf die heutigen und künftigen Herausforderungen vorbereiten können.

Neue Systeme schaffen neue Gewinner aber auch neue Verlierer, anstatt das System umzukrempeln, soll die Schule vielfältiger werden und das Bewertungssystem breiter.

Die Inklusion ist im gegenwärtigen Zustand unbefriedigend. Es braucht entweder mehr Unterstützung für die betroffenen Klassen oder wieder Klassen mit Kindern mit speziellen Bedürfnissen.

Noten können zu Topleistungen beflügeln oder lähmen. Es ist Aufgabe der Lehrperson herauszufinden, ob Noten die richtige Beurteilungsform für die entsprechenden Kinder sind. Ein Schulsystem, das rein auf intrinsischer Motivation aufbaut, wird nicht für alle Kinder das Richtige sein.

 

Quellen:

https://de.wikipedia.org/wiki/Lehrplan_21

https://ggg-web.de/z-ni-diskurs/621-gibt-es-ein-gerechtes-schulsystem-2

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